Leitartikel „Die Marginalie“, Hauszeitschrift Stämpfli Gruppe Bern, Nr. 4/2010. http://www.staempfli.com
Auf unserem Terrassentisch liegt eine reiche Apfelernte aus unserem Garten. Die Äpfel essen wir gerne, doch lebensnotwendig sind sie für uns nicht, wir gehören zu den Glücklichen dieser Erde, die alles Wesentliche haben. Und wesentlich ist: nie in meinem Leben musste ich um frisches Wasser bangen, stets war es in naturreiner oder zumindest geniessbar aufbereiteter Qualität vorhanden; ich habe nie gehungert; ich hatte die Möglichkeit, mich ausbilden zu lassen; ich lebe in einem demokratischen Land; ich habe noch nie physische Gewalt erlebt und lebe in einer Familie, die mir Rückhalt gibt. Damit gehöre ich zu einer privilegierten, kleinen Minderheit der Erde. Mein Einkommen ist ausreichend genug, dass ich mir meine Alltagswünsche erfüllen kann. Damit gehöre ich weltweit zu einer kleinsten Minderheit.
Dieser Zustand freut mich und beschäftigt mich zugleich. Namentlich der Zufall, dass ich in eine Familie und an einen Ort geboren wurde, der mir dieses Leben ermöglicht, scheint mir bedenkenswert. Welche Chancen und Risiken hat ein Kind im Kongo oder in den Weiten der argentinischen Pampa, selbst wenn es Eltern hat, die sich um ins kümmern? Doch es reicht bereits, vor unsere Haustüre zu treten, um zu sehen, wie wenig selbstverständlich meine Situation und die meiner Familie ist. Die Schilderungen meiner Frau, die als Heilpädagogin unterrichtet, lassen mich aufhorchen. Erstklässler, die mittags alleine zu Hause sind, weil die Eltern arbeiten; Kinder, die, einmal in dieser, mal in jener Familie leben, weil Vater oder Mutter die Lebenspartner ständig wechseln; Schülerinnen und Schüler, deren Eltern die Bedeutung einer guten Grundausbildung schlicht ignorieren; die Odyssee der beiden Kinder, die, kaum waren sie in der Schweiz, mit ihrer Mutter in deren Heimatland ausreisen mussten, dann mit dem Vater in dessen Heimatland, dann wieder mit der Mutter in die Schweiz, weil der Vater sie nicht mehr wollte. Haben solche Kinder wirklich dieselben Chancen wie unsere, wie wir, wie ich? Gibt es so etwas wie Chancenarmut und Chancenreichtum?
Vor hundert Jahren kannten wir in der Schweiz noch bittere Armut. Schritt für Schritt hat sich unser Land zu einem der reichsten der Welt emporgearbeitet, immer unterstützt von ausländischen Arbeitskräften und Unternehmern. Möglich wurde dies durch harte Arbeit und die politische und soziale Stabilität, die auf den demokratischen Werten unseres Landes gründet. Über die Jahre hat sich auch das Gesicht der Armut verändert. Immerhin leidet bei uns niemand Hunger und alle haben Zugang zu Schulen und zu medizinischer Versorgung. Doch nicht wenige vereinsamen, weil sie wegen ihren finanziellen Möglichkeiten abgedrängt werden. Die sozialen Folgen sind oft schlimmer als der Mangel an Geld. Diese zwischenmenschliche Armut geht uns alle etwas an.
Wohlstand sowie politische und soziale Stabilität müssen immer wieder erarbeitet werden. Hier mitzuhelfen motiviert mich. Ich will einen Beitrag zu einer offenen, solidarischen, modernen und direktdemokratischen Gesellschaft leisten, das heisst: neue Wege in die Zukunft suchen und gehen, die Zusammenarbeit fördern, die Menschen in die Pflicht nehmen, die mehr profitieren, als sie zu leisten bereit sind, Probleme differenziert anschauen und plakative Reden entlarven, Lösungen suchen und den rückwärtsgerichteten Neinsagern ein Ja entgegenhalten, den Benachteiligten helfen und denen, die wollen, Chancen bieten. Dies alles im Rahmen dessen, was ich zu leisten in der Lage bin, also Schritt für Schritt in meinem unmittelbaren Umfeld. Helfen Sie auch mit?