Sport und Politik seien zu trennen, das galt lange Zeit. Doch seit dem Krieg Russlands in der Ukraine ist Sport plötzlich politisch. Davon sind jedoch andere kriegführende Länder nicht betroffen.
Gerade noch hatten weder die Nationalen Olympischen Komitees noch das IOC Bedenken wegen China. Sport habe mit Politik nichts zu tun, die Sportler und Sportlerinnen schon gar nicht. Und noch immer soll die Fussballweltmeisterschaft trotz Tausender toter Bauleute, miserablen Arbeitsbedingungen und mangelnden Freiheitsrechten in Katar bestritten werden. Der FC Bayern München pflegt weiterhin enge Beziehungen zu Saudi-Arabien, deren Monarchen sich die Menschenrechte als Treppenwitz erzählen, Journalisten einsperren oder hinrichten lassen, wenn sie nicht im Strom der vorgegebenen Meinung schwimmen, Homosexuelle verfolgen, Frauen als minderwertig betrachten und einen aggressiven Islamismus weltweit unterstützen – und die in Jemen einen Krieg führen, der gemäss der UNICEF zur momentan grössten humanitären Katastrophe führt, konkret einer Hungerkatastrophe. In den letzten zwölf Monaten vor dem 24. Februar 2022 war Weissrussland in der westlichen Welt die bedeutendste politische Aufregung in der unpolitischen Sportwelt. Nachdem Lukaschenko mit Rückendeckung Putins die Opposition niedergeknüppelt hatte, wurde die Eishockey-WM dem Land entzogen. Das geschah erst, als Sponsoren mit dem Entzug der Gelder drohten. Gleichzeitig fand die Handball-WM in Ägypten statt. Die Schweizer Nationalmannschaft hat teilgenommen, obwohl das Gastgeberland bezüglich Menschenrechtsverletzungen den Weissrussen in nichts nachsteht und in der Rangliste der korruptesten Länder selbst Belarus schlägt. Seit Jahren gelten die International Handball Federation und ihr ägyptischer Präsident als hochgradig korrupt. Das wissen alle, die Handball spielen. Trotzdem machten der Staff und die Spieler der Nationalmannschaft nicht den Eindruck, sich der Situation bewusst sein zu wollen: Sport hat ja mit Politik nichts zu tun, Sportler und Sportlerinnen wollen nur sportlich kämpfen.
Die Freude am Sport soll durch die Schrecken von Folter und Verfolgung nicht geschmälert werden. Hat diese Scheinheiligkeit mit dem Überfall des Systems Putin auf die Ukraine nun ein Ende? Wir reiben uns die Augen: In verblüffender Harmonie distanzieren sich Sportverbände, Clubs und Sportlerinnen und Sportler von Russland und seinen Verbänden, Unternehmen und Oligarchen. Unter Druck muss Abramowitsch den FC Chelsea verkaufen, Schalke 04 wirft das russische Staatsunternehmen Gazprom, ihren Hauptsponsor, nach Jahren der Zusammenarbeit raus, die UEFA zieht gleich, und das Zuger Eishockey-Unternehmen EVZ beendet die Partnerschaft mit Nord Stream. Dabei hatte zuvor kaum jemand begriffen, wieso Gazprom überhaupt als Sponsor auftrat. Niemand von uns konnte das Unternehmen als Energielieferanten wählen. Wen wollte Gazprom mit den Geldern beeinflussen? Aufmüpfig ist nun auch die FIFA geworden, die Russland ausschliesst. Sie hätte dies aufgrund der eigenen Regeln längstens tun müssen, weil Russland in Syrien Krieg führt. Auch Syrien müsste ausgeschlossen werden, ebenso Saudi-Arabien wegen des Jemenkriegs, und die USA hätten während des Irakkriegs fernbleiben müssen. Das alles kümmerte niemanden. An den chinesischen Genozid an den Uiguren mögen die Verbände gar nicht erst denken, zu viel Geld steht auf dem Spiel. Hier darf Sport nicht politisch sein.
Am 24. Februar jedoch wurde über Nacht der Schleier weggezogen, und Sport wurde offiziell politisch – was er schon immer war. Dies geschah zum Glück und endlich und in einer Geschwindigkeit und Konsequenz, die niemand für möglich gehalten hätte. Allerdings: Ohne politischen und öffentlichen Druck und die entsprechenden Sanktionen wäre es nicht so weit gekommen. Wer jahrelang Gazprom als Sponsor umworben hat, wem es einerlei war, wie Abramowitsch ultrareich geworden ist, wer akzeptierte, dass kriegsführende Staaten an Spielen teilnehmen durften und dürfen, wer ohne Sorgen Sport neben Verfolgten treiben konnte, der und die wird nach dem (hoffentlich raschen) Ende des Ukrainekriegs genau dort weiterfahren, wo sie am 24. Februar aufgehört haben. Es haben sich nur die Umstände und nicht die Menschen verändert.
Hoffentlich täusche ich mich, dann nämlich müssten die Einsichtigen nun China, Syrien, Ägypten, Saudi-Arabien und Katar und einige Staaten mehr in die Pflicht nehmen. Ich wage zu bezweifeln, dass diese Einsicht stärker als Macht, Geld und politische Vorteile ist und dass sie stärker als diese entsetzliche Gleichgültigkeit der letzten Jahre sein wird.