Leitartikel „Die Marginalie“, Hauszeitschrift Stämpfli Gruppe, Nr. 4/2011 http://www.staempfli.com
Ein Börsen-Spekulant ist ein Hasardeur, der nicht abgewogene Risiken eingeht, der wettet. Er hat nur den Gewinn vor Augen, den Lottotreffer. Von ihm soll noch die Rede sein, doch lassen Sie mich Ihnen zuerst aus meiner Kindheit erzählen, die ich in den 60er-Jahren verbracht habe. In die Ich-Form schliesse ich meine drei älteren Geschwister ein, die ja dieselben Erfahrungen gemacht haben– wobei ich gleich her ihren ersten Zwischenruf höre, wie es in unserer Familie üblich ist: wir haben untereinander stets eine Anmerkung anzubringen. Also. Wie Sie sicher auch, haben wir zu Hause einiges mitbekommen, das unser Leben begleitet, so die Tischmanieren, die strikt eingefordert wurden. Alles musste mit Messer, Gabel oder Löffel gegessen werden. Pouletbeine ebenso wie, was damals selten vorkam, Crevettenschwänze; alles mit Ausnahme des Brots. Als Kind haben wir darüber geflucht, nicht am Tisch natürlich, dort galt die Tischsprache, die im Gegensatz zur Schulwegsprache klaren Anstandsregeln unterworfen war. Als Erwachsener habe ich dieser Schule oft gedankt, wenn ich im Anzug und Krawatte irgendwo irgendetwas fein essen musste. Wobei, um die Krawatte zu schonen, erlaube ich mir wie mein Grossvater mütterlicherseits, die Serviette über dem drittobersten Hemdknopf einzustecken. Selbstredend, dass ich den Teller leer essen musste. Abhängig vom Menu war dies bisweilen ein wahrer Kampf und wollte dieser kein Ende nehmen, mussten wir in die Küche und durften, um nicht alleine zu sein, den Hund mitnehmen, der sich gierig über das elende Gemüse und die fettige Saucisson vaudoise hermachte. Selbstredend wurde ich dazu angehalten, beim Essen beide Hände auf dem Tisch zu halten, dabei wurde verschiedentlich angemerkt, dass dies in England schon anders sei; eine erste kleine Schulung in Multikulti also. Emanzipation war nicht unwichtig, meine Mutter hat sie eingeführt, was hiess, dass mein Bruder und ich mehr als die Schwestern arbeiten mussten, meinten wir. Und was hiess, dass die jüngere der Schwestern noch heute der Meinung ist, dass ich nur deshalb so gut geraten sei, weil sie mich erzogen habe. Sic!
Eine Meinung haben und vertreten dürfen war gefragt, das Sprechen am Tisch ausdrücklich erlaubt, gar gefordert, und wenn ich, als stilles Kind (wirklich!) länger nicht sprach, wurde eine mögliche Erkrankung beargwöhnt. Die Diskussionen waren intensiv, zum Ärger des Vaters bisweilen chaotisch und oft einander übertönend. Nicht zwingend einfach, aber abhärtend.
Klar und deutlich wurden mir Werte vermittelt. Respekt, Gerechtigkeit, Hilfsbereitschaft und Engagement für die Gemeinschaft, Ehrlichkeit. Dazu stehen, was man gesagt und getan hat. Die Gleichwertigkeit des Menschen unbeachtet seiner Herkunft, seines Stands und seiner Ausbildung, wobei es zwei erwähnenswerte Ausnahmen gab: der Neureiche und der Spekulant. Als Neureicher galt nicht der erfolgreiche Jungunternehmer, der vermögend oder reich geworden war, sondern der, der das Geld angeberisch ausgab. Die negative Steigerung des Neureichen war der Spekulant, ein Krimineller eigentlich, wenn auch durch das Gesetz nicht verfolgt. Wenn über Spekulanten gesprochen wurde, sagten die Stirnrunzeln, die wie Gewitterwolken auf dem Gesicht meines Vaters lagen, mehr als tausend Worte.
Ich wusste, wo ich zu Hause war, an wen ich mich mit Sorgen wenden konnte, wenn ich wollte. Trotzdem sei angefügt, dass auch ich seit meiner Kindheit den üblichen Rucksack mit Ballast mittrage, Dinge, die es als Erwachsener zu bewältigen galt. Vieles habe ich in den letzten 30 Jahren über Bord werfen können, mit dem Rest komme ich heute gut zurecht. Überhaupt begann ich als Erwachsener die gelernten Dinge zu differenzieren und zu relativieren. Doch an drei Dingen halte ich fest. Erstens an den Werten, zweitens am Essen mit Besteck und drittens an der Meinung über Spekulanten.
Gut gebrüllt, sagte der Grosvater mütterlichseits.
LikeLike