Weltkonzerne sind nicht das Mass aller Dinge

Erschienen in „Die Zeit“, 9. Februar 2012

Hier ist Größe allein keine Strategie. Warum der Kanton Bern besser ist als sein Ruf. Eine Entgegnung.

Auslegeordnung zum Kanton Bern, die Stefan von Bergen in der vergangenen Ausgabe der ZEIT (Nr. 6/12, nachzulesen auch unter http://www.zeit.de/2012/06/CH-Bern) vorgenommen hat, ist treffend. Die differenzierte Darstellung der Fakten entspricht der Sorgfalt, die den Autor auszeichnet.

Die von ihm beschriebene Dominanz der Landbezirke, welche die Entwicklungen in den städtischen Agglomerationen blockieren, und der Mangel an strategischem Denken sind Kernprobleme des Kantons. Jedoch können zwei Paradigmen, mit denen der Autor arbeitet, nicht unwidersprochen bleiben, weil sie überholt sind: Größer ist nicht zwingend besser, und unternehmerische Monokultur ist kein Allheilmittel. Wenn nur Großkonzerne betrachtet werden, dann erhält unser Kanton ein »genügend«. »Das Fehlen von Unternehmergeist ist eine historische Berner Erblast«, schreibt dazu der Autor. Betrachten wir aber auch die Berner KMU-Welt – und nicht nur die Großunternehmen –, wird diese Behauptung Lügen gestraft. Wo werden die innovativsten Elektrovelos der Schweiz entwickelt und hergestellt? Wo ist die weltweit größte Uhrenindustrie zu Hause und wo die innovativste Cleantech-Branche? Oder wo findet das wichtigste Schweizer Unternehmerforum mit internationaler Bedeutung statt? Und wo sind die Hauptsitze des am schnellsten wachsenden Reisebüros der Schweiz, des weltgrößten Sportartikelhändlers und des führenden Sicherheitsunternehmens? Im Kanton Bern.

Mehr noch. In der Hauptstadt Bern wurden der Kongressstandort und das Messegelände ausgebaut. Mit den Fußball- und Eishockeystadien sowie dem Freizeit- und Einkaufszentrum Westside verfügt die Stadt über eine Infrastruktur, die im europäischen Vergleich top ist. Finanziert wurden diese Bauten privat, als unternehmerisches Engagement. Sie wurden nicht gesponsert wie etwa in Basel. Und im Gegensatz zu Zürich bauen wir unsere Großprojekte tatsächlich und reden nicht nur davon; die größte Stadt der Schweiz versucht seit Jahren erfolglos ein neues Fußballstadion zu bauen und reibt sich auf im politischen Gezerre um ein neues Kongresszentrum. Im Artikel von Stefan von Bergen bleibt dies leider alles unerwähnt. Wer Bern analysiert, um die Zukunft zu planen, muss den Blickpunkt ändern, den Paradigmenwechsel suchen: Größe allein ist keine Strategie, Weltkonzerne sind nicht das Maß aller Dinge, die Steuerfrage nicht die einzig entscheidende. Wagen wir es, den Blick abzuwenden vom selbstgerechten Auftritt einiger Regionen. Bern ist weniger aufgeregt als andere Standorte, man macht hier die Dinge, die zu tun sind. Man erzeugt hohe Innovationskraft ohne Geschrei. Und man lebt gerne. Doch wir Berner müssen, da liegt Stefan von Bergen richtig, die Strategie klären – und endlich beginnen, die positive Entwicklung besser zu kommunizieren. Von Bergen schreibt: »Andreas Rickenbacher sieht seinen Kanton als Ort, wo dereinst Wachstum mit Nachhaltigkeit kombiniert wird, wo das Wohnen noch erschwinglich ist und wo es noch ökonomische Rückzugsflächen gibt. Sehr dynamisch tönt das leider nicht.« Der Autor übernimmt die oft gehörte Aussage, Bern lebe gerne im Mittelmaß. Sie wird auch durch Wiederholung nicht wahr. Regierungsrat Rickenbachers Sicht ist richtig. Gesundes Wachstum statt Wachstum um jeden Preis, Erholungsgebiete, ökologische Sorgfalt, Wohnraum für alle Schichten sind bedeutsam in einer Zeit, in der, aufgrund zunehmender Komplexität, die Menschen nach mehr Ausgleich fragen, in der die Unsicherheit über die ökologische Zukunft steigt, in der das Zusammenwirken von Wirtschaft, Kultur und Sozialem ein Muss ist. Rickenbacher zeigt mit Bedacht in eine andere Richtung als das Bankenfiasko in Zürich, monströse Gewinne auf Kosten des Gesundheitswesens in Basel und völlig überteuerte Wohnsituationen rund um den Genfersee.

Wir müssen den Paradigmenwechsel wagen. Der Blick aufs Ganze, Vielfalt statt wirtschaftlicher Monokulturen sind gefragt. Zürich ist der Bankenplatz, Basel der Life-Science-Standort, Bern steht für Vielfalt. Innovation und Wachstum, verbunden mit Lebensqualität für alle Schichten, sind Ausgangspunkt für die Berner Strategie. Der Blick aufs Ganze gilt auch für eine selbstbewusste Schweiz, die die Landregionen als Chance sieht, zum Beispiel im Tourismus, als Naturerlebnis oder für sportliche Aktivitäten; so auch das Emmental und das Berner Oberland, das für sich allein der fünftgrößte Kanton der Schweiz wäre und sechsmal größer als Obwalden ist. Wären die Berner Landgebiete Teil von Zürich, würde dieser Kanton im eidgenössischen Finanzausgleich zum Nettoempfänger und Bern zum Nettozahler. Auch die wirtschaftsstarke Region Bern-Mittelland kann die Berner Landgebiete nicht allein finanzieren. Wir sind eben eine Schweiz, die alle Regionen gemeinsam tragen muss, so wie wir alle Zürich getragen haben. Wie sähe dieser Kanton ohne Swissair- und UBS-Rettung und ohne die Milliarden für die ETH aus? Der Kanton Bern macht seine Hausaufgaben und ist im Aufbruch. Seine Ausgangslage für eine erfolgreiche Zukunft ist im Schweizer und europäischen Vergleich ausgezeichnet.

Über pstaempfli

Unternehmer mit besonderem Interesse für Unternehmenskultur und Unternehmens- und Verbandskommunikation. Mitinhaber von Stämpfli Gruppe Bern: Auch bei Fokus Bern zu finden:
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