Fragen ohne Antworten

Erschienen als Kolumne in der Berner Zeitung vom 11.01.2014

Während ich diese Kolumne schreibe, liegt Michael Schumacher schwer verletzt im Spital. Die Medien berichten, und die Fans halten den Atem an. Ich kenne ihn nicht. Geht er mich etwas an? Ich weiss, dass er ein genialer Autorennfahrer war. Gebührt ihm mehr Aufmerksamkeit als anderen Verunfallten? Wie bringe ich diesen einen Skiunfall in Einklang mit der rekordhohen Anzahl an Rettungseinsätzen über die Neujahrstage? Ich habe keine Antwort.

Schon bald beginnen die Olympischen Spiele in Sotschi. Sport ist nicht Politik, sagt man uns. Stimmt, die Leistung von Lara Gut hat mit der Einstellung von Vladimir Putin zu den Homosexuellen nichts gemeinsam. Doch was wollen uns die russischen Politiker mit den überdimensionierten Spielen am Schwarzen Meer beweisen? Sport ist schön? Zehntausende Sicherheitskräfte sind aufgeboten. Milliarden wurden investiert, damit sich die Sportler messen können. Skifahren in Sotschi und Fussball in Katar? Ist das nicht einfach nur Politik, getarnt als Sport? Wenn wir dann trotzdem mitfiebern, denken wir dann auch an die Verdrängten, die Geächteten, die Verfolgten, die grauenhaften Arbeitsbedingungen? Und wenn wir gerade bei den Arbeitsbedingungen sind: Wer sind die Männer, die die erzwungenen Sexdienste von Frauen kaufen, die durch Menschenhandel in die Schweiz verschleppt wurden?

Es gibt weitere Fragen, die ich nicht beantworten kann. Wir stimmen über die Mindestlohn-Initiative ab. Sie will Arbeitnehmenden mindestens 22 Franken/Stunde sichern. Ich stimme Nein. Diese Forderung auf Verfassungsebene höhlt die bewährte Sozialpartnerschaft aus. Doch zu denken geben mir die Arbeitgeber, die derart tiefe Löhne bezahlen, dass ein einzelner Mensch davon nicht ohne Fürsorgeleistung leben kann. Medien berichten, solche Löhne würden teilweise im Schuhhandel geboten. Weshalb akzeptieren wir das als Kunden? Weshalb kümmert uns der Lohn anderer nicht? Wieso kaufen wir Kleider, die in fremden Ländern zu Arbeitsbedingungen hergestellt werden, die bei uns verboten sind und die wir selber nie akzeptieren würden? Weshalb geniessen wir im Ausland in Hotels Ferien, in denen Menschen zu Löhnen arbeiten, die nicht mal dort zum Leben reichen?

Ebenfalls zur Abstimmung kommt die Masseneinwanderungsinitiative. Ich stimme Nein. Das Anliegen ist verlogen. Es suggeriert, dass die Ausländer an unserem Ungemach schuld seien. Doch schuldig sind wir, die wir so leben wollen, wie wir leben. Wir sind nicht bereit, all die Arbeiten zu verrichten, die Ausländer in der Schweiz eben verrichten und dabei zur Sicherung unserer AHV beitragen. Erstaunlich, dass gerade solche, die für die Familie einstehen, den Ausländern den Familiennachzug verbieten wollen. Die Arbeitskraft soll kommen, aber ihre Familie muss sie zurücklassen? Ist das das, was wir unter menschlichen Arbeitsbedingungen und unter «Die Familie ist der Kern der Gesellschaft» verstehen?

Denken wir bei dem, was wir machen, an die, die etwas für uns machen? An die, die in Bangladesch für uns Kleider nähen, in Russland schweigen, in Katar Stadien bauen, in der Schweiz die S-Bahnen reinigen? Vielleicht ist der Unfall von Michael Schumacher so beachtet, weil wir plötzlich erkennen, dass nicht nur ein grandioser Autorennfahrer unterwegs war, sondern ein Mensch, einer wie wir, der bei einer Sportart, die wir uns zutrauen, verunfallt ist. Es hätte uns selber treffen können.

Über pstaempfli

Unternehmer mit besonderem Interesse für Unternehmenskultur und Unternehmens- und Verbandskommunikation. Mitinhaber von Stämpfli Gruppe Bern: Auch bei Fokus Bern zu finden:
Dieser Beitrag wurde unter Gesellschaft und Staat, Kolumnen BZ abgelegt und mit , , , , , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Eine Antwort zu Fragen ohne Antworten

  1. Lovey Wymann, www.Schreib-Lounge.ch schreibt:

    Genau derartige Fragen habe ich mir vor kurzem in Tunesien gestellt – und darüber auf http://www.schreib-lounge.blog.ch geschrieben. Zu sehen, dass die (teilweise einheimischen!) Touristen 60% des Essens als Abfall auf dem Tisch liegen lassen, während die Menschen in der Küche zu 6. in einem Zimmer hausen, damit sie das Geld nach Hause schicken können, damit ihre Familien essen kann … Wäre es besser, solche Länder und Hotels zu meiden? Oder verlieren dann auch diese Menschen das bisschen Einkommen, das sie noch haben? – Mir ging es wie Ihnen: Ich habe keine Antworten …

    Like

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s