Eine Strategie braucht der Kanton

Der Kanton braucht endlich eine Strategie statt unkoordinerter Einzelentscheide. Ein Zusammenwirken der Parteien und Regionen ist unabdingbar.

Erschienen in Der Bund, 28.03.2018, Seite 17. Das Interview führte Bernhard Ott.

Herr Stämpfli, wurden die wichtigsten Probleme des Kantons Bern im Wahlkampf angesprochen?

Kaum. Die Sozialhilfe ist ein wichtiges Thema, aber nicht das einzige. Ohne Wirtschaft zum Beispiel können wir gar nicht über die Sozialhilfe reden. Im Wahlkampf fehlte die Debatte über eine Strategie für den Kanton. Wo steht er in zwanzig Jahren? Gibt man sich zufrieden damit, dass der Bund jährlich über eine Milliarde Franken in den Kanton Bern pumpt?

Bern hat hohe Steuern, eine geringe Wirtschaftskraft, grosse Pendlerströme und hohe Infrastrukturkosten. Diese Probleme sind unlösbar.

Sie sind nicht unlösbar, aber sie sind komplex. Beim Umgang mit den Unterschieden zwischen den Regionen scheuen sich die Politiker vor klaren Aussagen, weil es ein Minenfeld ist. Ein Politiker aus dem Berner Oberland wird sich kaum gegen den Grimseltunnel aussprechen, weil es sinnvoller wäre, die Investitionen in die Zentren des Kantons fliessen sollten. Zudem hat niemand eine konkrete Vorstellung davon, wie die Regionen entwickelt werden können. Daher lässt man das Thema sein.

Der «Bund»-Kommentator schrieb, es wäre zweifellos besser, den RBS bis zum Inselspital weiterzuziehen als die Grimselbahn zu bauen.

Das ist zwar plakativ ausgedrückt, aber sie enthält eine Wahrheit: Der Kanton muss sich überlegen, wie er seine knappen Gelder zum Wohle des gesamten Kantons einsetzt und nicht nur zugunsten einzelner Regionen.

Warum sagt das denn kein Politiker?

Weil gewisse Realitäten schon gar nicht erst akzeptiert werden, so das Problem der Abwanderung aus den Bergregionen. Auch die Ansiedlung von Industrie ist in diesen Gebieten wegen den Transportstrecken kaum möglich, das wird gerne verdrängt. Die Menschen in den Randregionen selber sprechen nicht darüber, weil sie keine Alternativen sehen, die muss man ihnen aber bieten. Daher muss der Regierungsrat strategische Eckpunkte für die Regionen festlegen, wie das zwei überwiesene Motionen im Grossen Rat verlangen.

Bisher gibt es zwei Rezepte: Steuern runter und dann kommen die Firmen, postulieren die Bürgerlichen. Die Linken fordern Investitionen in die Lebensqualität, damit Steuerzahler angelockt werden.

Beide Rezepte schliessen einander nicht aus. Die politischen Lager hören einander aber nicht zu, so findet man keine Lösung. Der Kanton Bern hat im Vergleich mit anderen Kantonen ein unterdurchschnittliches Wachstum und zu hohe Steuern. Es braucht aber eine starke Wirtschaft, um über die Lebensqualität zu reden. Ja, Arbeitnehmende suchen nicht nur nach günstigen Steuern, sondern auch nach Lebensqualität, Kultur, sozialer Sicherheit und Freizeitmöglichkeiten. Aber wenn Unternehmen keinen Anreiz haben, um in den Kanton Bern zu kommen oder zu bleiben, muss man gar nicht erst über Lebensqualität reden.

Politologe Michael Hermann sagte jüngst in der «Berner Zeitung», das Wachstum des Kantons Bern finde im Kanton Freiburg statt.

Das trifft leider zu. Der Kanton Freiburg hat tiefere Lebenshaltungskosten und mehr Bauland als der Kanton Bern.

Kann es denn ein Ziel sein, tiefere Steuern als der Kanton Freiburg anzustreben?

Nein, nicht zwingend. Es braucht einen Mix von Massnahmen. Man kann nicht einfach die Steuern senken und dann auf den Aufschwung hoffen. Es braucht ein strategisches Vorgehen, ein schrittweises Senken der Unternehmenssteuern. Wichtiger wäre eine Senkung der Einkommenssteuern. Das ist aber deutlich schwieriger umzusetzen, weil der Steuerausfall rasch sehr hoch ist.

Wenn man Steuern senkt, hat es kein Geld mehr für flächendeckende Tagesschulen zum Beispiel.

Das lässt sich zurzeit gar nicht beurteilen, weil eben eine übergeordnete Strategie fehlt. Weil man nicht weiss, was man will, spart man dort, wo es am wenigsten Widerstand gibt. Gäbe es eine übergeordnete Strategie, würde man vielleicht eher beim Unterhalt oder in der Verwaltung sparen als bei der Sozialhilfe, wobei ein genaues Hinschauen auch hier richtig ist. Die Verwaltung aber gilt als Tabuzone.

Die Stadt Bern macht das Gegenteil: Sie will um 56 Stellen aufstocken. In den Städten wird geklotzt, im Kanton gespart.

Ich fürchte, hinter dem Stellenausbau in der Stadt fehlt die Strategie. Wenn man Geld hat, sollte man sich überlegen, wo es am sinnvollsten eingesetzt werden könnte: in neuen Stellen, in Infrastruktur oder in Steuersenkungen? Diese Debatte wird aber in der Stadt nicht geführt, weil auch die Stadt nicht weiss, wo sie hinwill. Das gemeinderätliche Legislaturziel-Motto «Stadt der Begegnung» *) ist keine Strategie.

Die Stadt tickt eben anders. Ist der Stadt-Land-Graben nicht zu gross für eine gemeinsame Strategie?

Man spricht immer von einem Graben, aber es geht um unterschiedliche Realitäten. In Innertkirchen sind die anders als in Bern. Dies sollte man nicht gegeneinander ausspielen.

Für einen Oberhasler fällt es aber schwer zu glauben, dass die Stadt Bern einen Projektleiter «Raum für Begegnung» anstellt.

Das fällt nicht nur einem Oberhasler schwer. Ich verstehe diese Strategie überhaupt nicht. Wohin will die Stadt Bern in zehn, fünfzehn Jahren? In den Legislaturrichtlinien des Gemeinderates wird die Wirtschaft nur ganz am Rande erwähnt. Das ist ein sehr enger Blick.

Die von ihnen geforderte Gesamtstrategie stiess im Grossen Rat auf Widerstand. Die SVP befürchtet einen neuen Papiertiger. Diese Gefahr ist doch real?

Interessant ist ja, dass nicht alle SVPler das so sehen. SVP-Grossrat Markus Aebi zum Beispiel hat den Vorstoss unterschrieben. Wenn man im Voraus sagt, es gebe einen Papiertiger, gibt man einer solchen Strategie keine Chance. Eine Mehrheit der Parteien sieht das anders als die SVP, auch der Regierungsrat.

Sie haben vorhin erwähnt, dass Sparen bei der Infrastruktur mehr einschenken würde als bei der Sozialhilfe. Sie werden keinen Grossrat finden, der bei der Infrastruktur sparen will.

Warum spricht niemand über den hohen Standard des Strassenunterhaltes? Über den Stellenetat des Kantons? Oder über die Beratungsleistungen, die der Kanton von Dritten bezieht? Es gibt in der Tat Themen, die kaum je aufgeworfen werden.

Wer einen geringeren Ausbau der Strasse nach Kandersteg fordert, wird nicht mehr gewählt.

Genau. Wo ein Minenfeld ist, machen alle einen Bogen darum. Die Probleme bleiben aber trotzdem da. Noch zum Strassenunterhalt: Aus der Bauindustrie ist zu hören, dass der Kanton durchaus billiger bauen könnte. Es geht nicht darum, nicht zu bauen, sondern günstiger zu bauen.

Sparen bei der Infrastruktur wird die Abwanderung aus den Regionen noch fördern.

Es gibt aber vielleicht Branchen, die man dezentral ansiedeln könnte. Im erwähnten «Bund»-Kommentar wurden digitale Dörfer erwähnt, der Ansiedlung computerbasierter Dienstleistungen in Randregionen. Das muss man prüfen und nicht zum Voraus erklären, es sei unmöglich.

Bei Infrastrukturfragen geht der Riss aber mitten durch die SVP. So zum Beispiel wenn Regierungsrat Pierre Alain Schnegg beim Spital Zweisimmen sparen möchte.

Das ist so. Wer das Spital Zweisimmen unbedingt erhalten will, muss aber wissen, dass es durch die Agglomeration Bern berappt wird. Macht das Sinn? Regierungsrat Pierre Alain Schnegg scheut sich nicht, diese Diskussion zu führen.

Wenn Sie einen Herzinfarkt an der Lenk hätten, wären Sie vielleicht froh um ein Spital vor Ort.

In Meiringen wurde ein Spital in ein Gesundheitszentrum umgewandelt. Zur Stabilisierung solcher Patienten muss man nicht immer ins Spital. Aber ich verstehe die Sorge der Bevölkerung vor diesen Änderungen, die jede und jeden sehr direkt treffen können, und das gilt es gerade auch in der Agglo Bern zur Kenntnis zu nehmen.

Was versprechen Sie sich von einer Gesamtstrategie? Der Kanton Bern wird nie ein Nettozahler im Finanzausgleich werden.

Schon „nur“ Die Senkung der Bezüge von 1,1 Milliarden Franken auf 500 Millionen Franken wäre bereits ein wesentlicher Beitrag. Wichtig ist jetzt, die dringend nötige Debatte über die Zukunft des Kantons zu führen. Wie will man Wirtschaft, Ausbildung, Medizinalstandort, Landwirtschaft, Tourismus, Industrie und Dienstleistungen fördern? Was soll in welcher Region entwickelt werden? Die Zeit ist reif für diese Debatte, das merkt man auch in Gesprächen mit den Regierungsräten. Die Bereitschaft der grossen Mehrheit der Parteien ist da. Ich bin sicher, dass auch die SVP positiv mitwirken wird.

Ich sehe nicht, wie es dabei zum Beispiel noch eine Zukunft für eine Randregion wie das Emmental geben kann.

Auch ich habe keine elegante Lösung. Aber ich bin sicher, dass die richtigen Leute Lösungen dafür finden können. Dabei kann und muss auf dem Bestehenden aufgebaut werden. Es ist ja nicht so, dass heute in den Regionen nichts geht. Wir haben ausgezeichnete Unternehmen in allen Regionen, die müssen zwingend gestützt werden. Aber sicher ist, nicht jeder Talabschnitt kann gefördert werden. Das bedeutet Verzicht und Verzicht tut weh.

*) Das Legislaturprogramm des Gemeinderats der Stadt Bern heisst nicht „Stadt der Begegnung“, sondern „Stadt der Beteiligung“. Das ändert jedoch an meiner Aussage nichts.

Über pstaempfli

Unternehmer mit besonderem Interesse für Unternehmenskultur und Unternehmens- und Verbandskommunikation. Mitinhaber von Stämpfli Gruppe Bern: Auch bei Fokus Bern zu finden:
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