Dieser Artikel ist als Vorwort in der Hauszeitschrift „Die Marginalie“, Nr. 1/2018, der Stämpfli Gruppe Bern erschienen.
Autofahrprüfungen, Lehrabschlussprüfungen, Eintrittsprüfungen: Wir kennen alle diese Situation, in denen es gilt, alles zu wissen, jetzt und ohne Korrekturmöglichkeit. Auch das Leben ist eine dauernde Prüfung, doch sie lässt viele Verbesserungsmöglichkeiten offen und ist kaum je abschliessend.
Wir prüfen uns andauernd und gegenseitig. Sich dessen bewusst zu werden, ist etwas ernüchternd, hoffen wir doch darauf, von anderen einfach so akzeptiert zu werden, wie wir sind. Und doch prüfen wir ständig. Zumindest unbewusst hören wir, ob das Gesagte mit der Stimme, der Mimik und der Haltung des Sprechers übereinstimmt. Wir merken sofort, ob jemand etwas Freudvolles sagt, dies aber traurig klingt, ob etwas ernst gemeint ist oder nur so dahergeredet wird, selbst wenn der Inhalt derselbe ist. Wir können das Gehörte gut finden, aber wir nehmen es dem Vortragenden nicht ab, weil uns irgendetwas an der Haltung oder in der Sprachwahl stört. Oder wir lassen uns überzeugen, weil die Sprecherin glaubhaft wirkt, ohne dass wir zu sagen vermögen, weshalb. Wir prüfen uns also gegenseitig, selbst die Menschen, die uns am nächsten stehen.
Wir prüfen, ob Vertrauen aufgebaut oder missbraucht wird. Dabei stehen wir auch im Beruf nicht nur als Fachkraft, sondern als ganzer Mensch auf dem Prüfstand. Unser Umfeld wertet, ob unsere Haltung immer dieselbe ist oder nicht, ob wir je nach Umfeld zum selben Sachverhalt stets andere Meinungen vertreten oder ob wir verlässlich sind. Sind unsere Werte, unsere Ziele und unser Handeln aufeinander abgestimmt, notiert das das Umfeld positiv, im umgekehrten Fall mit zunehmendem Befremden. Im beruflichen und privaten Umfeld kann dies bedeutende Folgen haben: Im guten Fall entsteht Vertrauen, werden wir ernst genommen und Teil einer uns unterstützenden Gemeinschaft, im schlechten Fall drohen Ablehnung und Ausgrenzung, zumindest aber Misstrauen.
Eigenverantwortung beginnt beim Prozess, sich der eigenen Werthaltung bewusst zu werden, sich Ziele zu setzen und sein Handeln darauf abzustimmen. Wer dies versäumt, schädigt sich selber, denn auf Dauer kann niemand unbeschadet gegen seine innere Überzeugung handeln. Viele Burn-outs oder andere persönliche Krisen gründen in einer Missachtung der eigenen Bedürfnisse und Werte. Wer mit seinen Zielen und seinem Handeln sein Ich verrät, wird früher oder später daran scheitern, weil er sich im Innersten aufgibt. Starke Menschen leben starke Überzeugungen, finden an ihnen Orientierung und Halt, ohne dadurch stur zu werden oder sich gegenüber neuen Ideen zu verschliessen. Sie scheuen die lebenslange Arbeit an sich selbst nicht, die nicht nur erhellende Erkenntnis bringt, sondern auch dunkle Momente und bohrende Fragen, die auszuloten anspruchsvoll und kräftezehrend sind. Dank Mitmenschen, die uns eine fruchtbare Auseinandersetzung ermöglichen, die uns zuhören und mit denen wir Gewissheiten zu überdenken und Hintergründe zu verstehen versuchen, lernen wir uns besser kennen. So wird die tägliche Prüfung zur positiven Erfahrung.