Seit Jahrzehnten stranden Tausende an der afrikanischen Nordküste. Die Zustände sind unhaltbar und widersprechen den europäischen Werten.
Unaufhaltsam fährt das 280-Meter-Containerschiff durch die Strasse von Gibraltar. Ruhig ist es auf der Kommandobrücke, knapp 40 Meter über dem Meer. Immer wieder versuchen hier afrikanische Flüchtlinge mit kleinen Booten europäisches Festland zu erreichen. Wenn es in dieser Nacht solche hat, sind sie unmöglich zu sehen; das Radar erfasst sie wegen ihrer geringen Grösse nicht, und von der Brücke aus ist auf der Meeresfläche rein gar nichts zu erkennen. Dem erfahrenen wachhabenden Offizier ist die Sorge anzuhören: «Keine Chance. Wenn es Boote hat, die unseren Weg kreuzen, haben sie keine Chance. Wir sehen sie nicht, wir hören sie nicht. Wir wissen nicht einmal, ob wir sie rammen.»
Zurück von meiner Reise treffe ich B. Sie ist in Tarifa aufgewachsen, der spanischen Stadt an der engsten Stelle der Strasse von Gibraltar. Sie erzählt mir, sie sei als Jugendliche nicht alleine an den Strand gegangen, aus Angst davor, eine angespülte Leiche zu finden. Seit dem EU-Beitritt Spaniens versuchen Tausende von Afrikanern nach Europa zu gelangen. Die Gefahr, dabei von einem Schiff überfahren zu werden, ist wohl die kleinste. Die ungeeigneten Boote, die enormen Strömungen und das kalte Wasser sind weit gefährlicher. Bereits 2001 schrieb DIE ZEIT: «Wer hier 〉in Tarifa〈 begraben ist, war seinem Ziel schon ganz nahe. Erst der letzte Abschnitt einer oft Tausende Kilometer langen Reise wurde den Menschen zum Verhängnis. … Viele trekken zu Fuss durch die Sahara: Es sind Schwarzafrikaner aus Nigeria, Ghana, Sierra Leone – wo immer gerade Krieg herrscht oder wo einfach kein Vorankommen ist.» Das ist heute nicht anders.
Schlepper bringen jährlich Zehntausende an die Nordküste, die von hier in völlig untauglichen Schiffen nach Spanien, Malta und Italien gelangen wollen. Nichts wird die Flüchtlinge davon abhalten, nach all den Entbehrungen und Misshandlungen den letzten, lebensgefährlichen Sprung über das Meer zu wagen.
Zeitsprung. Vom 16. bis weit ins 19. Jahrhundert wanderten mehr Schweizer aus, als Ausländer eingewandert sind. Und auch noch zwischen 1850 und 1900 sind über 300 000 Schweizer ausgewandert, trotz Arbeitskräftemangel in der Schweiz. Nicht allen diesen Wirtschaftsflüchtlingen ist der Start in der neuen Heimat gelungen, doch alle hatten die Chance dazu. Afrikanischen Flüchtlingen jedoch bieten wir diese Chance nicht. Haben sie die Landreise und die Überfahrt geschafft, finden sie als Unerwünschte in Europa kaum Arbeit. Sie verdienen bei uns so wenig, dass eine Rückkehr in ihre Heimat undenkbar ist.
Die Massen von Flüchtlingen an der nordafrikanischen Küste an der Überfahrt nach Europa zu hindern, ist keine Lösung, sondern eine Katastophe mit Tausenden von Toten. Es ist wie wenn der Dorfbach überfliesst: Der Versuch, das eigene Haus zu schützen, ist wenig ergiebig, es braucht die Anstrengung der Gemeinschaft, dass der Bach nicht über die Ufer gerät. Genauso bedarf es der gemeinsamen Anstrengung aller europäischen Länder, Afrikanern in ihren Heimatländern eine Zukunft zu ermöglichen und Schlepperbanden das Handwerk zu legen. Was sich seit Jahrzehnten am Mittelmeer abspielt, widerspricht den europäischen Werten von Freiheit und Menschlichkeit, die wir zurzeit auch gegenüber Russland besonders gerne betonen. Das Geld von russischen Oligarchen, das wir trotzdem gerne annehmen, steht in krassem Gegensatz zur Tragödie am Mittelmeer.
Als Kolumne erschienen in der Berner Zeitung am 26.07.2014.