350 Mitarbeitende aus 17 Nationen in vier Kontinenten – so stellt Peter Stämpfli, Delegierter des Verwaltungsrates der Stämpfli Gruppe, sein Unternehmen vor. Ein Unternehmen, das bereits vor zwanzig Jahren ein Leitbild verabschiedet hat, und in dem die Unternehmenskultur wichtiger Bestandteil des Erfolgs ist. Die Stämpfli Gruppe ist ein inhabergeführtes Familienunternehmen in der sechsten Generation. Peter Stämpfli ist verheiratet und Vater dreier Kinder. Nach der Wirtschaftsmatur und dem Technikum für Druck und Verpackung in Lausanne hat er mit 29 Jahren – „relativ früh“, so sagt er – zusammen mit seinem Bruder das Familienunternehmen übernommen.
Wie definieren Sie Leadership?
Mit dem englischen Begriff und der Definition von Leadership tue ich mich schwer. Zum Führen gehören einerseits rein handwerkliche Fähigkeiten wie die Resultatorientierung, das Organisieren, Entscheiden und positiv Denken. Auf der anderen Seite stehen Fragen der Persönlichkeit, der Vorbildwirkung und der Kommunikation. Für mich ist Persönlichkeitsschulung besonders bedeutsam, nicht nur in der Führung. Alles fängt bei uns selber an, bei mir, so wie ich bin, so führe ich. So wie ich denke, so führe ich. So wie ich meine Gedanken an einem Montagmorgen auf die Reihe kriege, so komme ich auf meine Mitarbeitenden zu. Alles beginnt bei mir und deshalb ist Persönlichkeitsschulung ein wesentlicher Teil davon – also sich lebenslang weiter zu entwickeln, neue Wege zu finden. Das Leben ist ein Ganzes, diese Überzeugung prägt unsere Unternehmenskultur und damit die Führungsaufgabe.
Wie sind Sie zu diesem gesamtheitlichen Bild gekommen?
Sicher gibt es Werte, die seit Generationen in der Familie mitschwingen. Es ist unser Grundverständnis, dass Menschen und Sachverhalte nicht schwarz oder weiss beurteilt werden können, sondern dass wir sie von verschiedenen Seiten aus betrachten müssen und wollen. Anders ist es mit Entscheiden, da benötigen wir ein Ja oder Nein, ein Entweder-oder, dies als Grundlage zum Erzielen von Resultaten. Der für uns entscheidende Wert ist der Respekt vor den anderen Menschen. Dazu kommt der langfristige Horizont, eine Sichtweise, die wesentlich davon geprägt ist, dass wir das Unternehmen nicht in der ersten, sondern in der sechsten Generation führen. Ich muss nicht quartalsweise Rechenschaft ablegen, die Resultate über mehrere Jahre sind wichtiger. Das ergibt einen völlig anderen Blick auf das Ganze.
Ich habe vergangene Woche mit einem Mitarbeiter, der pensioniert wurde, über die Werte in unserem Unternehmen gesprochen. Er hat gesagt, grundsätzlich seien die heutigen Werte dieselben, die bereits vor 40 Jahren gültig waren. Sicher habe sich die Art und Weise der Zusammenarbeit verändert, doch die Grundwerte seien geblieben.
Rechnet sich Leadership in einem Unternehmen?
Führung ist vorwärtsgerichtet, hat immer die Ziele vor Augen. Wenn sich Führung nicht rechnet, ist sie gescheitert. Die Frage ist also eher: Rechnet sich wertorientierte Führung? Da sagen wir klar Ja. Ein Beispiel: Wir können einzelnen Spezialisten und Führungskräften aus wirtschaftlichen Gründen nur tiefere Löhne bezahlen, als diese beispielsweise bei den Staatsbetrieben erhalten würden. Das wissen die Mitarbeitenden. Nicht wenige sagen, was sie bei uns an Selbstständigkeit, Zusammenarbeit und Kultur hätten, sei für sie geldwerte Leistung.
Es gibt Hinweise, dass wir in Bezug auf das Engagement von Mitarbeitenden in schwierigen Zeiten gut dastehen. Beispielsweise 2009, als es um Kurzarbeit und deren Dauer ging. Im Mai/Juni 2009 haben wir nicht gewusst, ob womöglich für den ganzen Rest des Jahres Kurzarbeit nötig wird. In diesem Moment zu spüren, dass es – auch aufgrund der offenen Kommunikation – einen Ruck in der Belegschaft gab und die Mitarbeitenden sagten: Wir sind alle dabei, wir helfen mit. Und das ohne Aufruhr, Protest oder andere negative Reaktionen, ausser natürlich der Sorge um die kurzfristige Zukunft. Da fühlte ich die positive Firmenkultur im entscheidenden Moment. Und das ist etwas, was man nicht in eben diesem Moment aufbauen kann.
Und wenn wir pro Jahr über 300.000 Franken für die Einarbeitung neuer Mitarbeitender ausgeben, haben wir ein bedeutendes Interesse, dass niemand aussteigt, nur weil wir womöglich nicht gut führen und ihr oder ihm nicht den Spielraum geben, der nötig wäre.
Die Bedeutung werteorientierter Führung hat eine ähnliche Entwicklung wie die des ökologischen Denkens. Am Anfang waren es die Grünen mit ihren `komischen Läden´ und dem `Äpfeln, die nicht so schön aussehen´ – bis die Menschen begriffen haben, dass das Sinn macht. Heute ist ökologisches Verständnis im unternehmerischen Umfeld absolut gegeben, nicht nur aus Zwang. Ähnlich ist es mit den unternehmenskulturellen Fragen: Als mein Bruder und ich angefangen haben, hat es oft geheissen: Schwatzen wir jetzt oder arbeiten wir? Bis die Leute begriffen haben, was es bringt, sich auszutauschen; heute ist das natürlich selbstverständlich. Auch heute noch höre ich ausserhalb des Unternehmens: `Das ist Gutmenschentum, das rechnet sich nicht´ – das sind wirtschaftlich dumme Aussagen von Führungskräften, die nicht begriffen haben, dass wertorientierte Führung ein gesamtheitlicher Ansatz ist. Es ist ja längst klar, dass Mitarbeitende, die ihr Leben, ihre berufliche Tätigkeit möglichst umfassend beeinflussen können, weniger gestresst und wesentlich engagierter sind, eine deutlich bessere Leistung erbringen und kreativer arbeiten.
Was sind mögliche Hürden auf dem Weg zu einer guten Unternehmenskultur?
Zuerst müsste man definieren, was gute Unternehmenskultur ist. Wohl eine, die zu den Menschen im Unternehmen passt, eine die authentisch ist. Menschenzentrierte Unternehmensführung wird immer komplexer, weil man irgendwann ungemein vernetzt ist. Es kommen viele Sichtweisen zusammen, vor allem in Bezug auf das Menschsein, aber natürlich auf in Bezug auf sachliche und prozessuale Fragen. Die Arbeit mit sich selbst gibt viel zu tun und ist nie zu Ende. Da stolpern viele und ziehen sich zurück auf das für sie vermeintlich Machbare, das Sichtbare und das Rationale. Diese Einengung auf die Leistungsebene muss logischerweise zu kurz greifen. Wenn das ein junger Mensch macht, gehört es zu seiner Lernkurve zu begreifen, dass er auf der Sachebene nur als ganzer Mensch bestehen kann, wenn er die Beziehungsebene nicht vernachlässigt. Aber bei gestandenen Unternehmern und Geschäftsführern kann ich die Abkürzungen nur schwer nachvollziehen. Und es wird sich rächen. Daher: Die erste und wichtigste Hürde sind die Unternehmer selber. So wie mein Bruder und ich sind, so ist auch unser Unternehmen.
Ein Beispiel. Wir haben erlebt, was in der Finanzkrise mit den Banken geschehen ist, weil stets nur die ungeheuerlichen Gewinnerwartungen im Vordergrund standen. Nun ist mein Eindruck, dass trotz der Abgründe, die sich uns aufgetan haben, es genauso weitergeht wie vorher. Weshalb? Ich komme auf die Werte in unserem Unternehmen zurück. Ganz zentral für uns ist die Frage der Loyalität: Für was stehe ich ein und für was nicht? Ist der Mitarbeitende hier an Bord oder nicht? Es gibt nicht ein `Wenig-da-Sein´ oder ein `Wenig-nicht-da-Sein´, sondern nur die Entscheidung, ob oder ob nicht. Ich meine das nicht im Sinn von Selbstaufgabe, im Gegenteil, sondern im Idealfall als Entscheidung einer starken selbstständigen Persönlichkeit, die aus Überzeugung diese Arbeit macht.
Bei den Investmentbanken ist das Hauptproblem nicht, wie viel die Menschen verdienen. Das Problem der Loyalität ist wesentlicher. Da sind Finanzspezialisten, die definieren sich über das Geldverdienen – und zwar über viel Geldverdienen. Unsere Mitarbeiter definieren sich nicht über das Geldverdienen. Sie benötigen ihren Lohn, der natürlich wichtig zum Leben ist. Aber sie sind nicht alleine wegen des Lohnes hier und alles andere ist sekundär. Doch die Banker wechseln, weil es an einem anderen Ort einen besseren Deal gibt, so erklärt man uns immer wieder. Sie empfinden absolut keine Loyalität zu ihrem Arbeitgeber. Ihnen geht es nur darum, wo es mehr Geld gibt. Das ist Handeln auf dem Niveau eines Hilfsarbeiters, wie ich es in den USA erlebt habe. Die haben wegen 20 Cent mehr in der Stunde ihre Stelle gewechselt. Aber für sie waren 20 Cent existenziell wichtig. Bei den Finanzanalysten ist das sicher nicht der Fall. Und wenn solche Wechsel auf den Schlüsselpositionen eines Unternehmens geschehen, auf Positionen, die den wesentlichen Ertrag einspielen, ist das fatal und ein sehr grundsätzliches Problem.
Wie sind die Reaktionen auf Ihre Unternehmenskultur?
Wir stellen fest, dass immer mehr Leute in unserem Umfeld positiv darauf reagieren. Mitarbeitende, gerade auch jüngere, nehmen das allerdings zunehmend als selbstverständlich hin. Sie erwarten das gesamtheitliche Denken, sind stark vernetzt und sind bereit, mitzumachen und dazu beizutragen. Unsere Mitarbeitenden arbeiten lange bei uns. Unser Durchschnittsalter liegt bei 40 Jahren und die Verweildauer bei zehn Jahren, bei Schlüsselmitarbeitenden noch länger. Wir haben unter ihnen eine so geringe Fluktuation, dass es uns schon fast Sorge macht, weil wir ja auch Auffrischung und neue Gedanken brauchen. Das versuchen wir zu erreichen, indem wir die Jüngeren stärker als früher einbinden, sie mit ihren Ideen mitnehmen und die Erfahrungen der Älteren gleichzeitig nutzen. Die Fluktuation pendelt jedes Jahr zwischen zehn und vierzehn Prozent. Wenn sie hoch ist, hat das häufig damit zu tun, dass wir mehr Pensionierungen als üblich haben und wir die Lernenden nicht übernehmen können. Wir bilden pro Jahr etwa sechs bis sieben Lernende aus.
Gibt es womöglich eine negative Seite?
Vielleicht weniger negative Seiten als Gefahren, vorab die, dass wertorientierte Führung noch bei weitem kein Garant für unternehmerischen Erfolg ist. Sie ist ein Aspekt der Unternehmensgestaltung, sie ist nicht Strategie, sondern bedeutsam bei der Strategieumsetzung. Sie hilft, strategische Fehlentwicklungen zu vermeiden, kann uns davor aber nicht schützen. Die grossen Herausforderungen unserer Zeit treffen uns genau gleich wie alle anderen, auch wir kochen nur mit Wasser.
Es eine weitere Gefahr, mit der wir leben müssen. Wir sind anfällig dafür, dass jemand unser Verständnis für Zusammenarbeit ausnutzt, sei es gezielt in einer Art Bösartigkeit, was sehr, sehr selten vorkommt, oder sei es unbewusst. Das merken wir eher spät, weil wir einerseits die hohe Selbstständigkeit des Einzelnen fördern ohne ihn dauernd zu kontrollieren, und anderseits einfach nicht damit rechnen, dass jemand unser Zusammenarbeitsverständnis nicht teilt. Wir sind an diesem Punkt wohl eher zu nachgiebig und schauen zu spät hin; doch wenn wir merken, dass uns jemand ausnutzt, handeln wir sehr schnell sehr konsequent.
Wie gehen Sie damit um?
Durch die Kommunikation und das Vorleben unserer Unternehmenskultur erreichen wir, dass deren Missbrauch sich auf sehr wenige Einzelfälle reduziert. Und diese negativen Momente werden durch die positiven deutlich aufgewogen.
Man kann Ihre Frage auch im Allgemeinen beantworten: In schwierigen Situationen hilft das Zusammensein und zusammen Wirken. Wir führen seit je in einer breiten Geschäftsleitung. Niemand ist allein, sondern jeder kann sich mit seinen Kolleginnen und Kollegen offen austauschen, auch mit den Mitgliedern der Arbeitnehmervertretung. Mit vielfältiger inner- und ausserbetrieblicher Unterstützung können wir unseren Mitarbeitenden auch bei persönlichen Schwierigkeiten helfen.
Für mich persönlich ist eine gesunde Familienstruktur wichtig. Ich habe eine Frau, die meine Arbeit unterstützt, eine Familie, die mich mitträgt. Dass meine Frau selber berufstätig ist, bereichert meinen Erlebnishorizont und hilft mir, dass in der Familie nicht nur unser Unternehmen ein berufliches Gesprächsthema ist. Und wir achten darauf, die Lebensbalance zu halten. In meiner Freizeit müssen entspannende Momente und Tätigkeiten gegenüber der enorm herausfordernden Arbeit im Unternehmen genügend Raum finden. Das ist wichtig und wir wachen recht intensiv auch bei unseren Mitarbeitenden darüber, dass sie zu genügend Ruhe und Ausgleich kommen, soweit wir dies beeinflussen können.
Wie stellen Sie sicher, dass Abteilungsleiterinnen und Abteilungsleiter mit Personalverantwortung die Unternehmenskultur umsetzen?
Wir haben den Dreisatz: Werte, Ziele und Umsetzung. Führungsarbeit verlangt nach gemeinsamen Zielen. Wenn man sich da einig ist, ist viel erreicht. Aber die Zielerreichung ist langfristig nur auf einer gemeinsamen Wertebasis möglich. Auch danach suchen wir die Leute aus. In der Geschäftsleitung ist niemand, von dem ich nicht genau weiss, dass er oder sie auf der gleichen Wertebene wie mein Bruder und ich ist. Das verstehe ich nicht missionarisch, denn jeder Mensch prägt auf seine Weise seine Arbeit, und Vielfalt hat im vorgegebenen Rahmen Platz. Am Anfang steht allerdings die Übereinstimmung, dass der andere die grundsätzlichen Werte wie Respekt, Vertrauenskultur, Selbstständigkeit und Eigenständigkeit teilt. Das hinterfragt niemand grundsätzlich, vielmehr wird immer wieder überprüft, ob wir wirklich auf Kurs sind: `Handeln wir entsprechend unseren Grundsätzen oder nicht? Das schriftliche Festhalten von Grundsätzen ist wichtig, denn ausformulierte Sätze verhindern Missverständnisse. Wir verlangen von den Abteilungsleitenden das Darstellen ihres `Spielfeldes´: Sie müssen ihrem Team die Eckpunkte der Zusammenarbeit klar machen, das was ihnen wichtig ist, was verhandelbar und was unverhandelbar ist. Die Teammitglieder erarbeiten dann im Rahmen dieser Eckpunkt die gemeinsam Teamregeln. Das ist ein Vorgehen, mit denen die Menschen im Unternehmen eingebunden werden können. Wenn jemand die Teamregeln unterschreibt, kann er nicht am nächsten Tag sagen, dass ihn das nichts angehe.
Merken Sie eine Veränderung in der neuen Generation von Führungskräften?
Ja, ich glaube schon, dass die Jüngeren, die unter 30- bis 35- Jährigen, mit anderen Vorstellungen als die Älteren, also Menschen meines Alters, im Unternehmen arbeiten. Sie haben einen Anspruch an eine eigenständige, gesamtheitliche Tätigkeit und sind bereit dafür einzustehen. Die Art und Weise, wie wir hier zusammenarbeiten, ist für sie selbstverständlich in einem guten Sinn. Sie erwarten das. Spannend an ihrer Kommunikation finde ich, dass sie völlig anders vernetzt sind. Das Selbstverständnis, sich zu vernetzten, wirkt schon fast genetisch verankert. Das ist neu und unglaublich faszinierend. Ich sehe es auch an unseren Kindern, die sich über jedes Thema – banale oder wichtige – mit zahlreichen Menschen auf vielen unterschiedlichen Kanälen austauschen und zwar in `real time´. Und so kommen die Jüngeren entsprechend auch mit dem Selbstverständnis, ihr Umfeld rasch einzubeziehen. Ich habe auf keinen Fall ein Bild von jungen Leuten, die nur fordern und nicht bereit sind zu geben, im Gegenteil, ich erlebe eine junge Generation, die bereit ist, mehr zu leisten als meine Generation in diesem Alter.
Was sagen Sie zum Thema Unternehmenskultur und Wertefrage?
Ein wichtiges Thema. Unternehmenskultur und Werte lassen sich nicht trennen, jede Kultur hat ihre Werte, fragt sich einfach welche. Ich gebe bei uns zwei Mal jährlich einen freiwilligen Kurs an einem Samstagmorgen zu Persönlichkeitsschulung und Bewusstseinssteigerung. Inzwischen sind um die Hundert Mitarbeitende freiwillig gekommen, manche sogar mehrfach. Ich spüre bei einigen den fast schon drängenden Wunsch, sich mit solchen Themen auseinanderzusetzen und sich unter Kolleginnen und Kollegen austauschen zu können. Wir behandeln Themen, die die Menschen beschäftigen. Bei einzelnen Mitarbeitenden haben die Diskussionen viel ausgelöst. Eine Frau mit Kindern meinte, sie habe im Kurs realisiert, dass sie auch in der Familie den Wertefragen mehr Gewicht geben müsse. Meine Fragen im Kurs waren: Warum bin ich eigentlich hier im Unternehmen? Was will ich in meinem Leben? Ist das der richtige Ort? Stimmt das hier? Denn wir wollen niemanden mitnehmen, der irgendwann erkennt, es stimmt hier nicht mehr, aber das hätte er bereits vor zehn Jahren merken können. Zwei Mitarbeitende haben sich aufgrund dieser Fragen neu orientiert und den Beruf gewechselt.
In diesen Kursen spüre ich den Wunsch nach der Sicht auf das Ganze im Leben. Nicht wie mir ein ehemaliger Mitarbeiter einmal gesagt hat: Ich bin ein privater Mensch einerseits und ich bin ein Berufsmensch andererseits und beides hat miteinander nichts zu tun. Wir sprechen deshalb nicht gerne von `Work-Life-Balance´. Für uns geht es nicht darum, die Arbeit und das Leben in Einklang zu bringen, sondern das Leben in seiner Vielfältigkeit, also `Life-Balance´. Die Arbeit und das private Leben – Hobbys, Familie, Freunde, persönliche Weiterentwicklung – sind untrennbare Teile des Lebens. Wenn wir als Gesellschaft und auch als Unternehmen diese gesamtheitliche Sicht nicht einnehmen, dann wird es einfach nur teuer und nicht selten öffnen sich menschliche Abgründe.
Stellen Sie mit zunehmendem Alter Veränderungen in ihrem Führungsstil fest?
Die grössere Erfahrung sorgt für eine gewisse Ruhe. Sicher bin ich heute konsequenter und mit der Zeit haben sich die Werte noch präziser herauskristallisiert. Menschen kann ich besser einschätzen, da bin ich früher eindeutig unsicherer gewesen. Heute muss ich aufpassen, dass mit zunehmendem Alter meine Eckwerte nicht verkrusten, sondern ich sie immer wieder hinterfrage und erneuere. Wir haben 1996 in einem schwierigen Jahr das ganze Unternehmen umgekrempelt. Da ist es mir weniger gelungen, innerlich zurückzustehen und am Abend abschalten zu können. Das kann ich nun besser. Jeweils den positiven entspannenden Moment geniessen, jetzt, in der Gegenwart und auch im Kleinen, im Bewusstsein, dass das, was ich heute geniesse, die Kraft für die Anstrengung von morgen ist. Den glücklichen Moment als solchen zu nehmen und ihn nicht durch einen anderen Gedanken zu verdrängen.
Was macht eine gute Führungskraft aus?
Eine gute Führungskraft arbeitet resultatorientiert, macht klar, was sie erwartet, lässt genug Spielraum, dass die Einzelnen als Menschen und Fachspezialisten bestehen können und nicht nur Arbeitskräfte sind. Sie ist Vorbild, indem sie die Regeln, die sie aufstellt, selbst einhält. Sie ist authentisch. Sie kann Fehler zugeben, wenn etwas schief gegangen ist; der Umgang mit Fehlern, das Nicht-vollkommen-Sein, das Rechnen damit, dass Sachen nicht gelingen können, ist ein besonders wichtiger Punkt. Dabei steht die Arbeit mit sich selber an erster Stelle: Fragen der Bewusstseinsbildung, die eigenen Ziele kennen, die ganz privaten wie auch die beruflichen und damit auch die Ziele zu kennen, die die Führungskraft mit den Mitarbeitenden im Unternehmen erreichen will. Die gute Führungskraft scheut es nie, an sich selber zu arbeiten, sich selber zu führen.
Was sind die Sonnen- und Schattenseiten als Führungskraft?
Das Schöne ist sicher, gemeinsam mit vielen Menschen vorwärts zu gehen. Mir ist es selbstverständlich, dass ich am Morgen nicht dauernd überlegen muss, ob der eine oder die andere jetzt wirklich an unserem gemeinsamen Ziel arbeitet. Ich weiss, dass alle an Bord sind und in dieselbe Richtung wollen. Einander in die Hand zu arbeiten und zu vertrauen, ist mir sehr wichtig. Das Entscheidende ist dabei, gemeinsam das Ziel erreichen zu können.
Das Negative sind die Sorgen mit einzelnen Mitarbeitenden. Wenn es schwierig wird, weil jemand gesundheitliche Probleme hat, oder wenn man aufgrund unternehmerischer Veränderungen Menschen entlassen muss. Das ist enorm belastend. Trennungen sind generell schwierig, Kündigungen besonders. Auf Momente wie die Kurzarbeit, die wir vor zwei Jahren erlebt haben, kann ich gerne verzichten. Allgemein kann ich sagen: Die Sorge um die Arbeitsplätze in einer unsicheren Zeit, wie wir sie seit einiger Zeit in unserer im totalen Umbruch befindlichen Branche erleben – die Sorge um die Arbeitsplätze ist die am meisten belastende.
Sie engagieren sich im Bereich Kunst und Gesellschaft, waren Präsident der Kunsthalle Bern und sind im Verein „Bern neu gründen“ aktiv. Gibt es einen Zusammenhang zwischen Führung und Ihrem bürgerlichen Engagement?
Ja, einen direkten. Es macht mich mindestens misstrauisch, wenn ich sehe, dass Führungskräfte nur in einem Unternehmen arbeiten und vielleicht noch mal zu Hause mit der Familie etwas machen, aber sonst nichts. Ich bin überzeugt, die Freiwilligentätigkeit – egal wo – öffnet Horizonte, zeigt andere Sichtweisen, ermöglicht ein Leben ausserhalb der eigenen Begrenzungen. Bei den langfristig erfolgreichen Unternehmern, die ich kenne, machen die meisten noch irgendetwas nebenbei. Zum Teil machen sie ganz merkwürdige, exotische Sachen, aber sie haben irgendein Thema, für das sie sich engagieren, viele tun dies für das Gemeinwesen.
Ich engagiere mich absichtlich auch ausserhalb meines Berufs. Ich bin jetzt seit bald 23 Jahren in diesem Unternehmen. Ich habe hier zusammen mit meinem Bruder in der Absicht angefangen, dass wir das als Unternehmer auf Lebenszeit machen. So kann ich nicht für ein paar Jahre in ein anderes Unternehmen wechseln und mir Auffrischung und Horizonterweiterungen holen, um dann wieder zurückzukommen. Die Horizonterweiterungen muss ich woanders finden. Viele Jahre war ich in der Jugendarbeit aktiv, dann habe ich mich für die Kunsthalle Bern engagiert. Dabei habe ich Menschen aus völlig unterschiedlichen Lebensbereichen kennengelernt, was enorm bereichernd war und ist. Ja, und dann öffnen mir unsere Kinder mit ihrer frischen Denkweise oft die Augen. Das alles weckt Verständnis für andere Denk- und Lebensweisen – für mich ist das unabdingbar, um mich persönlich hinterfragen und weiterbringen zu können. Denn schlussendlich bin ich nicht Unternehmer, sondern ein ganzer Mensch.