Der Ruf nach einer «Strategie» ist oft Ausdruck von Ratlosigkeit oder politischer Hinhaltetaktik. Und doch gewinnt strategisches Denken in der Politik an Gewicht. Denn die Schweiz ist unter Druck. Vor den grossen inhaltlichen Würfen müsste über die Grundfrage diskutiert und ein Strategieprozess definiert werden.
Kaum ziehen Wolken auf, fordern viele Politiker «eine Strategie». Was auch immer sie darunter verstehen mögen – egal, ob Steuerstreit oder Informationsaustausch, Luftraum oder Erdwärme, Kampfhunde oder Killerviren. Das Zauberwort tönt gut, schiebt den schwarzen Peter weit von einem fort und gaukelt Entschlusskraft vor. In der Voliere am Bundesplatz wird reich belohnt, wer nach Dingen ruft, die es nicht gibt, statt Beschlüsse zu fassen, die es braucht. Lange Bank statt kurzer Wege. Das taugt für alle Problemlagen, wie weit die Sichten auf das Konkrete auch auseinanderliegen. Zweierlei steht bei fast jedem Malaise fest: Erstens ist der Bundesrat schuld, und zweitens fehlt der Plan aller Pläne. In telegen inszenierter Aufregung beklagen es die einen, mit staatsmännisch umwölkter Stirne kritisieren es die anderen. Und die üblichen Experten, die alles wissen und nichts verantworten, singen das Beresinalied dazu.
Mut zum Verzicht
Eine Strategie ist aber mehr als blosses Wortgeklingel. Eine Strategie ist ein konsistentes Ziel- und Massnahmengerüst, eine Denklogik. Sie basiert auf einem methodisch strengen Prozess, bündelt die Handlungsstränge systematisch und verbindlich, richtet alle Schritte nach präzisen Zielen aus und muss von allen gleich verstanden und gelebt werden. Strategien sind keine Wunschzettel. Damit ist klar, dass es für strategiegeleitetes Denken und Handeln zu spät ist, wenn die Hütte schon brennt. Strategie ist auch nicht Reaktion. Und: Wer nach einer Strategie ruft, muss sie auch umsetzen wollen. Aber sind ausreichend viele Politiker in den Parlamenten bereit, sich einem übergeordneten Ziel zu unterwerfen? Kaum bis nie. Wenn es ums Biegen und Brechen geht, belassen es viele doch lieber beim Biegen. Und wenn es pressiert, schüttet man halt noch etwas Sand in die Sanduhr nach. Bei Strategien geht das nicht. Es liegt in ihrem Wesen, dass sie in einem frühen Zeitpunkt die Weichen stellen, die Reihen schliessen und im unendlichen Universum von Möglichkeiten die Handlungsspielräume rigoros eingrenzen. Strategie heisst immer auch Mut zum Verzicht. Eine wirkliche Strategie verschliesst heute Türen, durch die man später nicht mehr gehen kann. Das ist gewollt, denn nie ist die Orientierungslosigkeit grösser, als wenn man um fünf vor zwölf unvorbereitet vor lauter offenen Türen steht.
Strategien lassen deshalb bewusst nur einen schmalen, dafür kalkulierten Korridor zu. Das hat Vorteile: Der Kurs ist klar, die Kraft geballt, die Zeit genutzt, die Kompetenzen sind geregelt. Jedes Tun lässt sich planen, kontinuierlich auf den gewählten Weg einstellen und ohne Verschleiss realisieren. Der Preis: Der Einzelne ist eingeschränkt und gebunden, es kann nicht ewig alles offenbleiben, der Handlungspfad ist festgelegt. Strategien müssen robust sein, Abweichungen die seltene Ausnahme.
Die Schweiz ist von aussen unter Mehrfachdruck. Die Gegenspieler sind dezidiert. Das ist gefährlich. Im Inneren werden Positionen hingegen oft isoliert aus dem Blickwinkel der direkt Betroffenen bezogen, ohne Gesamtschau, meist spontan. Erfolgsfaktoren wanken, die Regulierung wird enger statt weiter. Das grosse Ganze versinkt im kleinen Einzelnen. Kaum beschlossen, werden Positionen ins Provisorium versetzt. Mandatierte Verhandlungsführer lesen unterwegs, wer ihnen von zu Hause aus so alles öffentlich in den Rücken fällt. Das ist gut für Schlagzeilen. Aber schlecht für das Land.
Umso bedeutender sind eine Analyse aus einem Guss und Klarheit über Weg und Ziele. Was will man – aus einer Gesamtbetrachtung heraus – unbedingt halten, was ist verhandelbar, wo kann man einlenken? Doch vor den grossen Fragen, zum Beispiel zu Autonomie und Kooperation, stellen sich die kleinen Hausaufgaben, um die es in diesen Zeilen geht. Ist die Schweiz reif für eine Strategie, mindestens für die Grundsatzfragen und die zentralen Dossiers? Und falls ja, verfügen wir über die Voraussetzungen dafür? Hat es überhaupt Sinn?
Zweifellos ist die Politik nur sehr bedingt mit einem Unternehmen vergleichbar. Ein Land kann man nicht führen wie eine Fabrik, und die Heimat ist mehr als ein Standort. Und doch ist in einer Zeit voller prinzipieller Umbrüche eine Dachstrategie und sind daraus abgeleitete Teilstrategien denkbar – für die Schweiz als Land und für einzelne Sektoren wie etwa Haushalt, Steuern, Verhältnis zur EU, Energie, Forschung oder Sicherung der Sozialwerke. Mit unzweideutigen, messbaren und aktiv beeinflussbaren Zielen. Ansätze dazu gibt es: Das Parlament legt als Aufsichtsrat die grossen Legislaturziele fest, Zielspezifikationen und Umsetzung sind Sache der Exekutive. Allerdings fehlen den heutigen Regierungsrichtlinien die systematische Basis, die methodische Disziplin und die Präzision von Strategiezielen.
Treppen werden von oben gewischt
Die Frage ist, ob eine Strategie gewollt ist. Falls ja, wären drei Voraussetzungen zu schaffen:
Die Kompetenzen zwischen Bundesrat und Parlament sind wieder klar und deutlich definiert.
Die Ziele werden in einem systematischen Strategieprozess festgelegt, verfolgt und überprüft.
Hinter einmal festgelegten Strategien werden die Reihen geschlossen.
Sind diese Voraussetzungen erfüllt, kann die eigentliche, strategiegeleitete politische Arbeit beginnen – vom Grossen ins Kleine, top down. Eine Treppe muss man von oben wischen. Wer je eine von unten gewischt hat, weiss, warum. Wie gesagt, unter der Bundeskuppel gibt es strategische Köpfe. Es sind oft Politiker, denen das Lärmprinzip nicht liegt, sondern die Zwischentöne. Politiker, für die das Scheinwerferlicht da ist, um besser zu sehen, und nicht, um besser gesehen zu werden. Sie verdienen gerade deswegen Beachtung.
Das ist zwar nicht so gut für Schlagzeilen. Aber gut für das Land.
Daniel Eckmann ist Jurist und Partner des Beratungsunternehmens Klaus-Metzler-Eckmann. Zuvor war er Stellvertretender SRG-Generaldirektor und Berater von Bundesrat Kaspar Villiger.