Angst vor dem Wandel

Nicht Fremdenfeindlichkeit steht am Anfang des Ja zur Masseneinwanderungsinitiative (MEI), sondern die Angst vor dem gesellschaftlichen Wandel. Das ist gefährlich. 

Gegen die Aare schwimmen kann man nicht. Aber man kann die Strömung nutzen, um rasch auf die andere Seite zu kommen. Beim Wandel ist das nicht anders: Wir können uns nicht gegen ihn stemmen, aber wir können ihn nutzen. Das Ja zur MEI stemmt sich gegen den Wandel. 

Das Ja ist vielschichtig. Grundsätzlich schwingt darin die Auseinandersetzung mit dem massiven Wandel mit, den die Schweiz durchläuft und der grosse Bevölkerungsteile verunsichert. Vieles verändert sich, Gewohntes verschwindet, ohne dass wir wissen, ob das Neue uns gefallen wird. Der Wandel zeigt sich im Graben, der sich durch die Wirtschaft zieht. Die NZZ am Sonntag zeigte auf, dass viele Gewerbetreibende zu den Verlierenden gehören. Sie leiden unter geöffneten Grenzen und unter schwindendem Marktschutz. Gewonnen haben Dienstleistungs- und international tätige Unternehmen, allen voran die Pharmaindustrie. Der Graben zwischen Verlierern und Gewinnern zieht sich auch sonst quer durch die Gesellschaft. Regionen mit starkem Wirtschaftswachstum (Bassin lémanique, Region Bern-Mittelland, Zürich, Basel Stadt) haben die MEI abgelehnt. Sie erleben die Vorteile einer offenen Schweiz.

Die Welt ist in starkem Wandel. Eine treibende Kraft sind die Kommunikationstechnologien. Ihre Möglichkeiten krempeln alles Bisherige um. Weltweite Internetbestellungen gehören zum Alltag, und leicht kann ich einen österreichischen Schreiner um eine Offerte bitten. Der Einfluss von Fukushima auf die Schweizer Energiepolitik zeigt, wie entfernteste Ereignisse unmittelbaren Einfluss auf uns haben. Längstens ist die Forschung, die für unser Land von eminenter Bedeutung ist, international vernetzt; sie lebt vom Austausch − das Ja trifft auch sie im Kern.

Der Wandel lässt sich nicht aufhalten, doch er verunsichert enorm. Angst vor der Schliessung der Schule, der Poststelle und des Dorfladens und vor der Streichung von Subventionen, Sorge um die Lohnhöhe und die Arbeitsstelle und vor mehr Kriminalität, von der man doch immer hört. In einer solchen Situation ist umsichtige Führung durch das Parlament, den Bundesrat und durch Persönlichkeiten in Wirtschaft, Kultur und Politik wichtiger denn je. Doch es herrscht ein Führungsvakuum. Die Sachprobleme, die sich durch die Einwanderung ergeben haben, wurden weder durch den Bundesrat noch durch die Parteien zielgerichtet angegangen. Umso mehr wurden sie von den MEI-Befürwortern aufgebauscht, sodass schliesslich die EU und «alle» Ausländer an «allen» Problemen schuld waren.

In der Unsicherheit tendieren Menschen dazu, das Bisherige als das einzig Verlässliche zu betrachten. Sie verharren oder wollen zurück zum vermeintlich Altbewährten. Aber im Leben gibt es kein Zurück. Kräfte wie das Internet, Social Media, Migration und Globalisierung drängen voran. Wer Wandel aufhalten will, dem schlägt er später umso stärker ins Gesicht – das ist das wirklich Gefährliche am Ja. Es gibt wichtige Errungenschaften auf, ohne dass die echten Probleme gelöst werden.

Nun sind plötzlich einfache Lösungen auf dem Tisch. Politiker übereifern sich im Unterbreiten von Vorschlägen. «D’Schwiiz isch äifach guet, das wüsset di anderen au», meinte Bundesrat Maurer auf Radio SRF1 zur Verhandlungsposition der Schweiz gegenüber der EU. Solche Selbstgefälligkeit ist der Anfang des Scheiterns und entlarvt eine seltsam unbedarfte Haltung. Wenn die Staatsverträge neu verhandelt werden müssen, gilt es, die besten unserer Diplomaten zu entsenden. Sie benötigen kluge Ideen und harte Argumente, härtere als diejenigen des Verteidigungsministers.

Dieser Text ist am 03.03.2014 als Kolumne in der Berner Zeitung erschienen.

Über pstaempfli

Unternehmer mit besonderem Interesse für Unternehmenskultur und Unternehmens- und Verbandskommunikation. Mitinhaber von Stämpfli Gruppe Bern: Auch bei Fokus Bern zu finden:
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